Krankenkassen müssen über Leistungsanträge von Versicherten binnen drei Wochen entscheiden, bei Einholung eines Gutachtens durch den Medizinischen Dienst binnen fünf Wochen. Überschreitet die Krankenkasse diese Frist, ohne einen triftigen Grund zu nennen, gilt der Antrag automatisch als genehmigt. Man spricht hier auch von einer Genehmigungsfiktion. Geregelt ist das in § 13 Abs. 3a SGB V. Die Vorschrift ist durch das sogenannte Patientenrechtegesetz eingeführt worden.
Das Bundessozialgericht hatte bislang diese Regelung sehr strikt zugunsten der Versicherten ausgelegt. Umso mehr sorgte jetzt ein höchstrichterliches Urteil für Aufsehen, das diese Rechtsprechung aufweicht (BSG Urteil v. 26.5.2020 - Az.: B 1 KR 9/18 R). Versicherte können auch bei einer „unbegründeten“ Fristüberschreitung nicht in jedem Fall und in jeder Hinsicht davon ausgehen, dass ihr Antrag genehmigt ist. Die Genehmigungsfiktion gilt unter Umständen nur „vorläufig“.
Fall: Krankenkasse entscheidet verspätet über Leistungsantrag
In dem betreffenden Fall hatte ein Versicherter, der unter Gangstörungen leidet, bei seiner Krankenkasse die Versorgung mit dem Medikament Fampyra beantragt. Das Arzneimittel ist zwar zur Behandlung von Gehproblemen gedacht, aber nur bei solchen, die durch Multiple Sklerose bedingt sind. Beim Versicherten lag aber eine andere Ursache für die Gehschwierigkeiten vor.
Die Krankenkasse lehnte den Antrag des Versicherten ab - allerdings erst nach der gesetzlich vorgeschriebenen Frist. Der Mann forderte daraufhin unter Berufung auf die Genehmigungsfiktion eine entsprechende Medikamentenversorgung per Kassenrezept. Er hatte zuvor auf die Beschaffung eines Medikamentes verzichtet. Die Versicherung verweigerte das. Darüber entspann sich dann ein Rechtsstreit. Der Versicherte verklagte seine Krankenkasse auf Leistung.
Greift die Genehmigungsfiktion - oder nicht?
In den gerichtlichen Vorinstanzen erhielt der Mann zunächst Recht. Die Richter beriefen sich dabei auf diebisherige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Genehmigungsfiktion. In der Berufung landete der Rechtsstreit dann vor dem BSG. Die Richter dort sahen den Fall anders. Danach kann aus der Genehmigungsfiktion alleine kein Leistungsanspruch abgeleitet werden.
Zwar sei der Versicherte nach Fristablauf berechtigt gewesen, sich das fragliche Medikament zu beschaffen und dafür eine Kostenübernahme von der Krankenkasse zu verlangen. Davon wurde aber im vorliegenden Fall kein Gebrauch gemacht. Die Genehmigungsfiktion bedeute noch keine Beendigung des Verwaltungsverfahrens zum Leistungsantrag . Die Krankenkasse dürfe und müsse weiterhin über den Antrag entscheiden. Das Ergebnis des Verfahrens sei - auch nach Ablauf der gesetzlichen Frist - bindend und beende ggf. das Recht zur Selbstbeschaffung „auf Kosten der Krankenkasse“. Aus der Genehmigungsfiktion könne nicht automatisch ein Anspruch auf Gewährung der Sachleistung nach Fristablauf abgeleitet werden.
Verweis auf Rechtsprechung zum Off-Label-Use
Die vorinstanzliche Berufung auf die Genehmigungsfiktion sei daher nicht zutreffend. Folgerichtig verwiesen die BSG-Richter das Verfahren an die Vorinstanz - das zuständige Landessozialgericht - zurück verbunden mit dem Hinweis, ein möglicher Anspruch könne allenfalls aus der BSG-Rechtsprechung zum Off-Label-Use hergeleitet werden. Als Off-Label-Use wird die Verordnung von Arzneimitteln außerhalb des behördlich zugelassenen Gebrauchs bezeichnet. Mit dieser möglichen Anspruchsgrundlage hatte sich das Landessozialgericht wegen der Berufung auf die Genehmigungsfiktion nicht näher befasst.
Verfassungsbeschwerde angekündigt
Im Bereich der Sozialverbände löste das Urteil Unverständnis aus. In dem Richterspruch wird ein Hebel für die Krankenkassen gesehen wird, die Genehmigungsfiktion zu Lasten der Versicherten de facto außer Kraft zu setzen. Der größte deutsche Sozialverband VdK kündigte eine Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht an. Die Versicherten würden durch das Urteil einseitig benachteiligt. Das letzte Wort in dem Fall ist womöglich noch nicht gesprochen.